Weihnachten steht unmittelbar vor der Tür, es hat sogar einen Fuß schon im Zimmer. Heute waren wir noch einkaufen - vor den Feiertagen ist das immer ein Spießrutenlauf - ein paar Lebensmittel, die restlichen Geschenke, ein paar Gutscheine, und für den kleinen Bruder des Freundes soll ich ja auch noch was aussuchen... Damit wenigstens das Abendessen nicht anstrengend wird, sind Veggie-Burger und Pommes geplant. Als ich dann vor der kilometerlangen Kühlabteilung stehe, fallen mir die großen Schilder auf: "Weihnachtsgans, aus Ungarn, 4 €", "Ente, aus Frankreich, 3 €". Diese Anpreisungen lassen mich für einen Moment den Rummel um mich herum vergessen, und die Bedeutung dieser Angebote trifft mich hart: Ein kleines, verwirktes Leben wird da tiefgekühlt um einen Spottpreis verkauft. Ein Individuum, eine kleine Persönlichkeit, die genauso Schmerz empfindet wie wir alle, mit einer Mutter und einem Vater und vermutlich unzähligen gefiederten Geschwistern. Vielleicht sollte eher das auf dem Schild stehen? Still packen wir unsere restlichen Sachen zusammen und machen uns auf den Heimweg. Auf der Autobahn überholen wir einen Tiertransporter. Es schauen mich zwei sanfte, dunkle Augen aus wuscheligen schwarz-weißem Fell an. Eng zusammengepfercht werden die Kühe in der Kälte zu ihrem vermutlich letzten Reiseziel gebracht.
Es scheint, so wären gerade zu den Feiertagen alle Vorsätze, alles Mitgefühl und alle Gedanken an unsere tierischen Kollegen vergessen. Ich kenne Menschen, die ansonsten sehr wenig Fleisch essen, die sich aber gerade Weihnachten und Silvester niemals ohne Karpfen, Schweinebraten, Bratwürstel oder Gänsebraten vorstellen könnten. Natürlich ganz zu schweigen von den Leuten, die allein vom Gedanken an vegetarisches Essen Ausschlag bekommen, auch die kurbeln ihren Fleischkonsum dann nochmal ordentlich an. Wieso verhalten wir uns an den Feiertagen so, als würde all unser Fleisch an Bäumen wachsen? Wieso verdrängen wir gerade zu Weihnachten die unzähligen Videos und Berichte über Massentierhaltung und ihre Gräuel? Fragt man die Leute, warum es denn gerade Truthahn zu Weihnachten sein muss, bekommt man Antworten wie "Weil es sich so gehört", oder "Weil es schon immer so war", oder "Weil es Tradition ist".
Tradition kommt von lat. tradere oder traditio, was soviel wie hinübergeben bzw. Übergabe bedeutet. Ich frage mich, was es denn ist, das wir hier hinübergeben. Sind es leere Gesten? Sinnfreie Handlungsabfolgen? Der Gänsebraten muss gegessen werden, weil es schon immer so war und das wird auch bis in die Ewigkeit so bleiben? Wollen wir der nächsten Generation Völlerei hinübergeben? Respektlosigkeit vor anderen, solange es unseren Gaumen Freude bringt? Und können wir diese Traditionen nicht selbst bestimmen und mit unseren eigenen Werten bereichern? Frei interpretiert nach Jean Jaurès: "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme." Ich brenne für Mitgefühl anderen gegenüber, und genau das möchte ich weitergeben, und ich bin überzeugt davon, dass viele, viele andere Menschen genauso denken. Warum richten wir unsere Traditionen nicht danach aus? Wer hat denn bestimmt, dass es am Heiligen Abend unbedingt Bratwürstel geben muss? Und können die nicht auch aus Seitan sein? Ich denke, dass die Feiertage genauso köstlich sind wenn man veganes Risotto, Pasta, Tapas, Nuss- oder Linsenbraten oder Ofenkartoffeln serviert. An Weihnachten kommen wir mit unserer ganzen Familie zusammen, lachen, haben Spaß und besinnen uns auf die wirklich wichtigen Werte im Leben. Wir feiern die Geburt eines besonderen Mannes, der schon lange vor unserer Zeit den Geringsten und Schwächsten der Gesellschaft die Hand gereicht hat. Sind diese Werte nicht viel besser in einem vegetarischen oder veganen Festtagsessen repräsentiert - einem Essen, bei dem kein Lebewesen zu Schaden kommt? Ich wünsche uns allen die Kraft, die Traditionen in unserem Leben so zu formen, damit sie unsere eigenen Werte repräsentieren und wir Mitgefühl, Güte und Nachhaltigkeit hinübergeben können. Frohe Weihnachten.