22. Dezember 2010

Über Traditionen

Weihnachten steht unmittelbar vor der Tür, es hat sogar einen Fuß schon im Zimmer. Heute waren wir noch einkaufen - vor den Feiertagen ist das immer ein Spießrutenlauf - ein paar Lebensmittel, die restlichen Geschenke, ein paar Gutscheine, und für den kleinen Bruder des Freundes soll ich ja auch noch was aussuchen... Damit wenigstens das Abendessen nicht anstrengend wird, sind Veggie-Burger und Pommes geplant. Als ich dann vor der kilometerlangen Kühlabteilung stehe, fallen mir die großen Schilder auf: "Weihnachtsgans, aus Ungarn, 4 €", "Ente, aus Frankreich, 3 €". Diese Anpreisungen lassen mich für einen Moment den Rummel um mich herum vergessen, und die Bedeutung dieser Angebote trifft mich hart: Ein kleines, verwirktes Leben wird da tiefgekühlt um einen Spottpreis verkauft. Ein Individuum, eine kleine Persönlichkeit, die genauso Schmerz empfindet wie wir alle, mit einer Mutter und einem Vater und vermutlich unzähligen gefiederten Geschwistern. Vielleicht sollte eher das auf dem Schild stehen? Still packen wir unsere restlichen Sachen zusammen und machen uns auf den Heimweg. Auf der Autobahn überholen wir einen Tiertransporter. Es schauen mich zwei sanfte, dunkle Augen aus wuscheligen schwarz-weißem Fell an. Eng zusammengepfercht werden die Kühe in der Kälte zu ihrem vermutlich letzten Reiseziel gebracht.

Es scheint, so wären gerade zu den Feiertagen alle Vorsätze, alles Mitgefühl und alle Gedanken an unsere tierischen Kollegen vergessen. Ich kenne Menschen, die ansonsten sehr wenig Fleisch essen, die sich aber gerade Weihnachten und Silvester niemals ohne Karpfen, Schweinebraten, Bratwürstel oder Gänsebraten vorstellen könnten. Natürlich ganz zu schweigen von den Leuten, die allein vom Gedanken an vegetarisches Essen Ausschlag bekommen, auch die kurbeln ihren Fleischkonsum dann nochmal ordentlich an. Wieso verhalten wir uns an den Feiertagen so, als würde all unser Fleisch an Bäumen wachsen? Wieso verdrängen wir gerade zu Weihnachten die unzähligen Videos und Berichte über Massentierhaltung und ihre Gräuel? Fragt man die Leute, warum es denn gerade Truthahn zu Weihnachten sein muss, bekommt man Antworten wie "Weil es sich so gehört", oder "Weil es schon immer so war", oder "Weil es Tradition ist".
Tradition kommt von lat. tradere oder traditio, was soviel wie hinübergeben bzw. Übergabe bedeutet. Ich frage mich, was es denn ist, das wir hier hinübergeben. Sind es leere Gesten? Sinnfreie Handlungsabfolgen? Der Gänsebraten muss gegessen werden, weil es schon immer so war und das wird auch bis in die Ewigkeit so bleiben? Wollen wir der nächsten Generation Völlerei hinübergeben? Respektlosigkeit vor anderen, solange es unseren Gaumen Freude bringt? Und können wir diese Traditionen nicht selbst bestimmen und mit unseren eigenen Werten bereichern? Frei interpretiert nach Jean Jaurès: "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme." Ich brenne für Mitgefühl anderen gegenüber, und genau das möchte ich weitergeben, und ich bin überzeugt davon, dass viele, viele andere Menschen genauso denken. Warum richten wir unsere Traditionen nicht danach aus? Wer hat denn bestimmt, dass es am Heiligen Abend unbedingt Bratwürstel geben muss? Und können die nicht auch aus Seitan sein? Ich denke, dass die Feiertage genauso köstlich sind wenn man veganes Risotto, Pasta, Tapas, Nuss- oder Linsenbraten oder Ofenkartoffeln serviert. An Weihnachten kommen wir mit unserer ganzen Familie zusammen, lachen, haben Spaß und besinnen uns auf die wirklich wichtigen Werte im Leben. Wir feiern die Geburt eines besonderen Mannes, der schon lange vor unserer Zeit den Geringsten und Schwächsten der Gesellschaft die Hand gereicht hat. Sind diese Werte nicht viel besser in einem vegetarischen oder veganen Festtagsessen repräsentiert - einem Essen, bei dem kein Lebewesen zu Schaden kommt? Ich wünsche uns allen die Kraft, die Traditionen in unserem Leben so zu formen, damit sie unsere eigenen Werte repräsentieren und wir Mitgefühl, Güte und Nachhaltigkeit hinübergeben können. Frohe Weihnachten.

9 Kommentare:

  1. Ich wünsche dir auch frohe Weihnachten liebe C!!

    Es ist schon so, dass einen der Veganismus immer mehr verändert, je länger man ihn betreibt. Zu Beginn musste ich immernoch aufpassen, dass ich nicht aus Gewohnheit Käse esse und mittlerweile horcht man bei Sachen auf, die früher ganz normal waren.
    Ich habe heute beispielsweise ein Gespräch zwischen einer Mutter und ihren kleinen Kindern in der Straßenbahn angehört. Die Mutter erzählte davon, dass sie morgen früh schon früh rausmüsse um "die Gans" zu bestellen da es am 23. immer so voll sei beim Schlachter. Eine ganz gewöhnliche Unterhaltung zur Weihnachtszeit, die mir aber Gedanken darüber wachrücken, wie grausam es eigentlich ist, dass die Kinder so lernen, dass eine Gans ganz natürlicherweise ein Lebensmittel ist was gegessen wird und nicht ein lebendes Tier.

    Hoffen wir, dass die Welt im nächsten jahr wieder ein bisschen besser wird!

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  2. Ich arbeite in einem ganz normalen Supermarkt und dort fällt mir natürlich regelmäßig auch die Aufgabe zu, Waren einzuräumen.
    Manchmal fällt es mir dabei verdammt schwer, die Tatsache zu verdrängen, was ich da gerade in die Tiefkühltruhen einschlichte.
    Ich kann mehr als gut nachfühlen, was du in deinem Eintrag oben geschrieben hast.
    Es ist eigentlich einfach nur traurig, mit welcher Arroganz - und Perversität! - der Mensch über seine Mitgeschöpfe herrscht.

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  3. Danke für dieses tolle Statement!
    Mir geht es genauso ,wenn ich vor den Tiefkühltruhen voller Fleisch stehe und bin jedes mal wieder angewidert und geschockt, wie Menschen vergessen können, wie sehr das Tier in seinem kurzen Leben gelitten hat, nur um schließlich auf ihren Tellern zu landen...

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  4. Danke. Es sollte so viel mehr Menschen geben, die diese Einstellung haben. "Das Fest der Liebe" für das Millionen (oder Milliarden?) von Tieren ihr Leben lassen müssen, das ist ziemlich widersprüchlich. Solche Gesprächsfetzen, wie der von Birdie genannte, machen mich auch immer wieder traurig, genau wie Wurst mit freundlichen Gesichtern drauf. Dass den Kindern auch ja eingetrichtert wird, dass Fleisch "einfach dazugehört"...
    Man sollte sich ein Beispiel an dir nehmen, frohe Weihnachten.

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  5. Die Preise sind schockierend.
    Ich bin mittlerweile stolz drauf, mehr Geld für meine Lebensmittel auszugeben.
    Du bist, was du isst.

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  6. Einen sehr, sehr guten Post hast du da geschrieben.
    Für mich hat Weihnachten immer "Das Fest der Liebe" bedeutet, bis ich der Realität mal ins auge geblickt habe und die mich gefragt habe, was Weihnachten denn für die anderen Menschen bedeuten soll, wenn sie bloß ihren Fleischkonsum ankurbeln ;/

    Liebe Grüße!

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  7. Hallo C!
    Es ist schon lange her, dass du diesen Post schriebst..heute ist es fast schon Sommer 2012 und ich stolpere über den Artikel-und sitze hier schweigend und bin sehr berührt von dem was du schriebst. Schon viel gelesen, aber das hier hat es sehr auf den Punkt gebracht. Toller Post!
    Insgesamt toller Blog..wühle mich grad durch so einige Blogs durch, deiner gefällt mir am besten!

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  8. Wow, ein ganz toller Artikel. Mich macht diese Ignoranz immer so unglaublich wütend, mit der viele Menschen durch ihr Leben gehen. Und das Traditions-Argument macht mich noch viel wütender - als könne man mit Tradition jedes falsche Verhalten legitimieren.
    Ich werde in letzter Zeit häufiger gefragt, was ich denn an Weihnachten essen würde, da ich ja keine Gans essen "kann". Ich frage mich wirklich manchmal, welch beschränkten Horizont man noch haben kann...
    Zum Glück lebt meine Familie vegetarisch-vegan, so dass ich zuhause keine Diskussion erwarten muss.
    Ich wünsche dir trotz allem schöne Feiertage, und mach weiter so mit deinem tollen Blog!
    Liebe Grüße
    Katja

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Ich freue mich immer sehr, von Euch zu hören! Vorschläge, Ideen, Lob, eine andere Meinung (respektvoll, please) - immer her damit!

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